Design Thinking oder Human-centered Design?
Stell dir vor, du wirst von einem Unternehmen als UX Professional engagiert, um ihren digitalen Webauftritt völlig neu zu gestalten und diesen mit innovativen Ideen auf die Bedürfnisse ihrer Benutzer*innen anzupassen. Ohne zu zögern, greifst du zu deinem Laptop und willst voller Elan mit dem Projekt loslegen. Beim Starten des Laptops erinnerst du dich daran, dass dein User-Experience-Design-Dozent immer wieder betont hat, wie wichtig in einem solchen Projekt die frühzeitige Entscheidung für ein Vorgehensmodell ist. Denn das Vorgehensmodell dient dir als Anleitung, die darlegt mit welchen Schritten und Tätigkeiten du dein Projektziel erreichen kannst. Bei der Suche nach einem Vorgehensmodell stösst du immer wieder auf die Begriffe «Design Thinking» und «Human-centered Design». Du bist dir unsicher, welches der beiden Vorgehensmodelle du einsetzen sollst und worin sich die beiden unterscheiden.
Genau in einer solchen Situation befand ich mich auch bei meiner Bachelorarbeit. Ich möchte dir eine aufwändige Recherche zu den Unterscheidungsmerkmalen beider Vorgehensmodelle ersparen. Deshalb zeige ich dir in den kommenden Abschnitten auf, wie sie sich in Verwendungszweck und Vorgehensweise unterscheiden. Bei der Recherche ist schnell aufgefallen, dass beide Modelle viele Überlappungen und Gemeinsamkeiten aufweisen. In gewissen Bereichen konnte ich allerdings feine, aber entscheidende Unterschiede feststellen.
Nicht nur die Ablauflogik ist eine Gemeinsamkeit
Beim Human-centered Design wie auch beim Design Thinking wird von der Überzeugung ausgegangen, Benutzer*innen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt aller Designentscheide zu stellen. In beiden Modellen werden die Benutzer*innen über den gesamten Entwicklungszyklus in allen Phasen, von der Analyse bis zur Bewertung miteinbezogen. Beide Modelle folgen darüber hinaus einem iterativen Verfahren. Der Design-Thinking-Prozess umfasst insgesamt 6 Phasen: Verstehen, Beobachten, Sichtweise definieren, Ideen finden, Prototypen entwickeln und Testen. Währenddem beinhaltet der Human-centered Design Prozess 4 Phasen: Nutzungskontext, Anforderungsspezifikation, Prototyp und Evaluation. Obschon sich beide Vorgehensmodelle bei der Anzahl an Phasen auf den ersten Blick unterscheiden, sind diese im Grunde genommen ähnlich. Beide Modelle stellen in der Ausgangsanalyse, der Analyse des Problems, die Merkmale der Nutzer*innen und den Nutzungskontext in den Mittelpunkt. Zudem werden auch bei beiden Prototypen des Produktes entwickelt und anschliessend mit potenziellen Nutzern getestet. Darüber hinaus bedienen sich beide Verfahren für die Erreichung der Ziele eines ähnlichen Methodenspektrums. Die Grundlogik eines Designprozesses wird also durch beide Modelle erschlossen.
Der Teufel steckt im Detail
Bisher klingt das alles sehr ähnlich. Aber wo liegen die Unterschiede? – Ein signifikanter Unterschied ist die Perspektive: Der Fokus von Design Thinking ist breiter und liegt auf dem Gesamtbild. Design Thinking besitzt ein grosses Anwendungsspektrum und wird auch bei umfangreichen Vorhaben sowie für die Ausarbeitung «grosser» Ideen verwendet. Dabei wird die Konzentration auf die Entwicklung neuer Produkte, Dienstleistungen und die Lösungen von weitreichenden sozialen oder sozio-technischen Problemen gelegt. Das Human-centered-Design-Vorgehensmodell hingegen fokussiert sich gemäss der Definition der ISO-Norm (ISO 9241 Teil 210) hauptsächlich auf die benutzerorientierte Gestaltung von interaktiven Systemen, Dienstleistungen sowie Produkten und ist somit eine spezifischere Denkweise.
Design Thinking konzentriert sich stark auf Innovation sowie Ideenfindung. Dabei geht es darum, benutzerorientierte Lösungen zu finden, um Produkte, Richtlinien und Dienstleistungen zu entwickeln, die den Benutzeranforderungen entsprechen. Der Ideation-Teil der Problemlösung wird hierbei stärker in den Vordergrund gestellt. Währenddem konzentriert sich das Human-centered Design verstärkt darauf, ein tiefes Einfühlvermögen für die Benutzer*innen zu entwickeln. Dieser Ansatz geht stärker auf eine tiefe empathische Betrachtungsweise der Benutzer*innen ein und soll dabei helfen, Lösungen zu konzipieren, die speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.
Der grundlegende Ansatz von Design Thinking ist, dass interdisziplinäre Teams elementar wichtig sind, um innovative Lösungen zu erarbeiten. Durch die Zusammensetzung des Teams mit Personen aus unterschiedlichen Fachabteilungen profitiert ein Projekt von verschiedenen Meinungen, Ansichtspunkten und Blickwinkeln. Beim Human-centered-Design-Vorgehen hingegen bestehen Teams oft lediglich aus mehreren User-Experience-Designern. Um dabei verschiedene Sichtweisen und Perspektiven zu erlangen, ist hier der Austausch von Wissen und die Zusammenarbeit über Abteilungen und Teams innerhalb und ausserhalb des Unternehmens hinweg umso wichtiger.
Widerspruch vom «kreativen Chaos» und «Struktur»
In verschiedenen Blogartikeln bin ich bei der Recherche zum Thema Design Thinking immer wieder auf die widersprüchlichen Begriffe «Kreatives Chaos» und «Struktur» gestossen. Mit dem «kreativen Chaos» ist die Umsetzung der Methoden gemeint, wobei alle Teilnehmer*innen zum Beispiel gleichzeitig Ideen entwerfen, auf Post-Its schreiben und diese an ein Whiteboard kleben. Die «Struktur» bezieht sich beim Design Thinking auf die verstärkte Vorgabe, welche Methoden und in welchem Takt sie innerhalb der einzelnen Schritte angewendet werden sollen. In einem Gespräch konnte Rainer, mein Teamkollege, welcher Praxiserfahrungen mit dem Design-Thinking-Ansatz besitzt, die Erkenntnisse meiner Recherche bestätigen. Er beschreibt seine Erfahrung mit dem Design Thinking wie folgt: «In einem klassischen Design Thinking Workshop habe ich mich wie an einem Gottesdienst gefühlt, der Ablauf war sehr stark orchestriert und kanalisiert. Anstatt der dogmatischen Vorgehensweise hätte ich mir mehr projektindividuelle Flexibilität im Vorgehen gewünscht.» Das Human-centered Design bedient sich zwar ebenfalls einem Methodenpool, ist aber viel zurückhaltender in Bezug auf «wann welche Methode oder welches Tool zu verwenden ist».
Kritik an Design Thinking und Human-centered Design
Kritiker behaupten, dass «Design Thinking im Grunde genommen eine Strategie zur Verteidigung des Status Quo» ist. Denn der Designer handelt beim Design Thinking als eine Art «Gatekeeper», welcher entscheidet, welche Meinungen in den Designprozess integriert werden. So privilegiert «Design Thinking» den Designer oder das Designteam gegenüber den Benutzer*innen, denen gedient werden sollte und schränkt deren Beteiligung am Designprozess ein. Dadurch wird das Innovationspotenzial eingeschränkt und es macht es schwierig, Herausforderungen zu lösen, die ein hohes Mass an Unsicherheiten aufweisen. Natasha Iskander ist in ihrem Artikel «Design Thinkning Is Fundamentally Conservative and Preserves the Status Quo» überzeugt davon, dass wir weniger über gescheiterte Designprojekte reden würden, wenn der Designraum für die Meinungen der Benutzer*innen und der Communities offen wäre.
Donald A. Norman kritisiert in seinem Artikel «Human-centered design considered harmful», dass die starke Konzentration bei der Entwicklung auf eine einzelne Gruppe von Personen gefährlich sei. Je mehr ein Produkt auf die bestimmten Bedürfnisse eines Benutzers zugeschnitten wird, desto weniger wird es den restlichen Benutzer*innen dienen. Zudem sind die Benutzer*innen nicht statisch, sondern entwickeln sich weiter. Das Design für Benutzer*innen von heute wird Benutzer*innen von morgen nicht mehr zufriedenstellen. Bitter dabei: Je erfolgreicher ein Produkt heute ist, desto weniger passt es zukünftig zu den Bedürfnissen der Benutzer*innen. Denn die Benutzer*innen werden in der Nutzung besser und entwickeln sich immer weiter in Richtung zu nativen Benutzer*innen. Diese benötigen neuere Interfaces als jene, welche wir für die Bedürfnisse der Anfänger entworfen haben.
Susanne sagt dazu: «Mit der Erfahrung, ganze Gestaltungsprozesse und Softwarelebenszyklen miterlebt zu haben, steigt die Flexibilität, das gerade passende Vorgehen und die passende Perspektive einzunehmen. Gerade das heute erlebbare JEKAMI (Jeder kann mitmachen) verursacht aber oft, dass sowohl echte Nutzer*innen im Sinne des partizipativen Designs als auch Seniorität in den Vorgehensmodellen und Methoden unterschätzt werden.»
So nutzen wir bei evux die Vorgehensmodelle
Wir bei evux sind fest davon überzeugt, dass sich ein kombinierter Ansatz beider Konzepte lohnt. Dies, weil die beiden Ansätze der gleichen Basislogik folgen und sich nicht gegenseitig ausschliessen, sondern vielmehr ergänzen können. Durch den Einsatz von Design Thinking können Visionen erstellt und mögliche Lösungen identifiziert werden. Währenddem empfiehlt sich der Human-centered-Design-Ansatz dazu, ein konkretes benutzerfreundliches Produkt zu erstellen. Unter dem Strich führt die Kombination der beiden Ansätze zu einem innovativen Produkt, das den Benutzer*innen Mehrwert bietet. Bei evux bedienen wir uns bereits heute erfolgreich Mischformen beider Konzepte. Bei passenden Projekten, haben wir das Human-centered-Design-Vorgehen zum Beispiel kurzerhand mit Methoden und Techniken, wie der «LEGO© SERIOUS PLAY©»-Methode oder mit einem «Visionsworkshop» ergänzt, um den Ideation-Teil oder den Visionsfindungsprozess verstärkt zu fördern. Und es bleibt dabei: Nutzerinterventionen sind nicht optional! 🙂