Ausgangslage
Versicherungen sind sogenannte Vertrauensgüter. Das bedeutet, dass der Anbieter bzw. die Expertin mehr über die vom Kunden benötigte Qualität weiss als der nachfragende Kunde selbst (Dulleck & Kerschbamer, 2006). Die Kundin kann sich beim Abschluss einer Versicherung nicht sicher sein, wann oder ob sie die bezahlte Dienstleistung überhaupt in Anspruch nehmen wird und in welcher Qualität. Hinzu kommt die Komplexität der einzelnen Produkte. Und als ob das nicht schon genug wäre, ist der Erfolg eines Beratungsgesprächs zudem vielschichtig.
Die Beziehungsebene kann einen grossen Einfluss auf die Inhaltsebene haben. Eine Beraterin, die kompetent und fachlich versiert ist, kann das Erlebnis positiv beeinflussen. Allerdings hat auch die (räumliche) Inszenierung grossen Einfluss darauf, wie ein Kunde das Beratungsgespräch wahrnimmt. Ist der Tisch rund oder eckig? Sitzen sich Beraterin und Kunde gegenüber oder nebeneinander? Und wie nah kommen sie sich dabei? Hier spielt das beratungsunterstützende Tool eine wichtige Rolle, denn nicht nur die Software muss ins Beratungskonzept einfliessen: ob der Kunde einen separaten Bildschirm vor sich hat oder beide auf ein gemeinsames Gerät schauen, hat einen signifikanten Einfluss auf die Interaktion und schlussendlich auf das Erlebnis aller Personen im Gespräch.
Die Beratungsphilosophie, der Beratungsansatz und das Beratungstool stehen in Wechselwirkung zueinander und sollten idealerweise zusammen entwickelt werden.
Dieser Komplexität eines erfolgreichen Beratungsgesprächs war sich auch die CSS von Anfang an bewusst. Aufgrund des starken Eigenvertriebsnetzes sind unterschiedliche Best-Practices zwischen den Agenturen unumgänglich. Für das Kundenerlebnis heisst dies, dass die Qualität individuell von der einzelnen, beratenden Person abhängt und nicht zwingend im Einklang mit der Marke oder einer gemeinsamen Philosophie steht.
Ziel der CSS war es, im Eigenvertrieb einen digitalisierten, einheitlichen Prozess zu etablieren. Dadurch lassen sich das Kundenerlebnis und verschiedene Kennzahlen messen und steuern. Drei grosse Anforderungen standen zu Projektbeginn im Vordergrund:
- Ein zur CSS passender Beratungsprozess
- Ein für den Prozess massgeschneiderter, digitaler Prototyp
- Realistische Tests des Prozesses und des Prototyps «im Feld», also in realen Beratungsgesprächen
Um uns dieser Herausforderung zu stellen, sind wir in einem Konsortium aus hervorragenden Fachexperten angetreten. Unterstützt durch die Expertise von Marc Linder (OneDigit), Dr. Philipp Matter (ZHAW) und Maroje Ljutic (Swiss Digital) konnte evux das Projekt mit hoher Seniorität in allen Phasen des Projekts durchführen.
Unsere unterschiedlichen Schwerpunkte verbanden wir mit dem menschzentrierten Ansatz, den wir eben nicht nur für die Toolentwicklung anwandten, sondern auch für die Entwicklung hochqualifizierter Fachprozesse wie der Kundenberatung.
Einen digital unterstützten Beratungsansatz für ganzheitliche Versicherungsgespräche zu erarbeiten, ist unserer Ansicht nach nicht (nur) Gremienarbeit. Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist der Bottom-up-Ansatz, der auf einem schlagkräftigen Kernteam aus Beraterinnen und Beratern aufbaut, das durch das Projektteam und relevante Entscheider ergänzt wird. Wir arbeiten bewusst im Gegensatz zu dem oft beobachtbaren Top-down-Ansatz, bei dem der Prozess und seine technische Unterstützung als rein strategische Arbeit ausschliesslich von Personen geleistet wird, die die Konzepte nicht selbst umsetzen müssen bzw. diese top-down einführen wollen.
Umsetzung
Die ersten Wochen galt es, Grundlagenarbeit zu betreiben, sämtliche Vorarbeiten zu konsolidieren und Widersprüche mit der realen Praxis zu bereinigen. Wie wurden die Kundinnen und Kunden bis anhin beraten? Welche Aspekte sollen beibehalten werden? Welche Hilfsmittel sind in welcher Form wie nützlich? Diesen Fragen sind wir mit den Beraterinnen und Beratern nachgegangen. Wer könnte schliesslich besser darüber Auskunft geben als die Personen, die tagtäglich Beratungen durchführen?
Dieses Vorgehen erlaubte es uns, gemeinsam mit den Nutzenden einen Prozess zu entwickeln, der sowohl kulturell passt als auch die Ziele des Managements mit aufnimmt. Sich widersprechende Aspekte konnten dadurch im Prozess bereits analysiert, aufgehoben oder als Sensitivpunkt für die Transformation (Change) erkannt werden.
Das Beratungsgespräch als Storyboard
Die Beratenden haben im Rahmen von Workshops das neue Beratungsgespräch als visuell dargestellte Geschichte besprochen. Basierend auf diesem erarbeiteten Wissen liessen sich anschliessend Grundregeln dazu ableiten, wie ein Beratungsgespräch abläuft. Dabei kamen bereits erste Hauptfunktionen des zu entwickelnden Beratungstools zum Vorschein. Der generische Gesprächsverlauf von evux kam als Stützprozess zum Einsatz. Grundregeln des Service-Designs wurden angewendet und ihr Erscheinungsbild im konkreten Prozess besprochen, zum Beispiel der Einsatz bestimmter Erklärinhalte oder das Ergründen von Bedürfnissen.
Grobkonzept
Mit der formulierten Beratungsphilosophie und dem Sollprozess starteten wir in die Gestaltung von Wireframes.
Wireframes sind grundlegende, schematische Darstellungen von Benutzeroberflächen. Sie dienen als Blaupausen für digitale Produkte, die es ermöglichen, die Funktionalität eines Produkts in einem frühen Stadium zu kommunizieren und zu überprüfen. Sie helfen im Entwicklungsprozess, Diskussionen zu fokussieren, die Folgen von Entscheiden greifbar zu machen und ermöglichen es sowohl prospektiven Nutzern als auch Stakeholdern, qualitativ hochwertigeres Feedback zu geben im Vergleich zum «Zerreden in der Luft». Dadurch wird der gesamte Design- und Entwicklungsprozess effizienter, fehlerfreier und benutzerfreundlicher.
Bei evux verfügen wir im Bereich der Beratungsunterstützungssysteme über viele Jahre Erfahrung (z. B. Interaktive Kundenberatung bei der ZKB, Gründung der Interessensgemeinschaft Beratungsunterstützung), aus der wir Grundregeln zum Design solcher Systeme entwickeln konnten, die auch im Projekt mit der CSS angewandt wurden, um iterativ mit den Beratenden ein ausgezeichnetes zukünftiges Beratungserlebnis zu entwickeln.
Eine Grundregel ist beispielsweise das Ein- und Auftauchen in Inhalte, die ein «Overview first, details on demand» ermöglichen. Durch diese Interaktions- und Informationsgestaltung wird die notwendige Flexibilität im Beratungsgespräch unterstützt.
Besonders ein Hilfsmittel, das häufig in Beratungssituationen angetroffen wird, benötigte viel Aufmerksamkeit: Der Beratungsbogen bzw. damit zusammenhängende Frage-Antwort-Situationen. Bei einer ganzheitlichen Bedürfnisergründung wird das Frage-Antwort-Spiel zwischen Kundin und Beraterin beliebig viel länger, als wenn es nur ein einziges Thema besprochen wird. Die Länge ist dabei nicht das eigentliche Problem. Aber gepaart mit dem bisherigen Stil, diese Bedürfnisfragen zu nutzen, kann der Start des Gesprächs für Kunden unangenehm wirken. Fragen wie «Warum will der Berater das jetzt wissen?» oder «Was hat das mit meiner Versicherung zu tun?» können entstehen und den Kunden verunsichern. Hierzu haben wir ein entsprechendes Modell in den Beratungsansatz und das Tool integriert, das es erlaubt, jederzeit detailliert auf Fragen einzugehen, ohne die Flexibilität des Gesprächs einzuschränken.
Formativer Test
Für die formative Evaluation wurden reale Kundinnen und Kunden eingeladen, die gemeinsam mit den Beratenden die Wireframes testeten. Diese Testsituation wurde von evux speziell für Beratungsapplikationen entwickelt. Dabei ist im Grunde die beratende Person Testmoderator:in. Der Testtag beginnt deshalb mit einer kurzen Einführung in den Stand des Prototyps. Die Testleiterin ist jederzeit als Unterstützung für technische Schwierigkeiten anwesend – ansonsten wird aber versucht, ein normales Beratungsgespräch zu führen. Diese Tests sind sehr früh möglich. Ihre Ergebnisse informieren das Design enorm.
Die wichtigste Erkenntnis aus den formativen Tests waren Usability-Schwierigkeiten auf den tieferen Ebenen, aber auch ein wesentlicher Aspekt, den das Projekt nicht selbst lösen konnte: bisherige Erklärinhalte unterstützten die Beratung zu wenig und lenkten die Kundinnen und Kunden ab. Aus den Ergebnissen konnten wir Anforderungen an optimierte Erklärinhalte definieren und diese an die entsprechenden Stellen im Unternehmen weiterleiten – für spätere Iterationen konnten wir dadurch bereits überarbeitete Inhalte nutzen.
Visuelles Design & Softwareentwicklung
Obwohl in der Praxis viele Organisationen zunehmend auf agile Methoden in der Softwareentwicklung setzen, fand die Entwicklung in diesem Projekt sequenziell (oder auch wasserfallartig) statt. Es gibt dabei kein richtiges oder falsches Vorgehen, denn sowohl sequenzielle als auch agile Methoden haben ihre Vor- und Nachteile. Die Wahl des geeigneten Ansatzes hängt von projektspezifischen Faktoren ab. In diesem Fall war die initiale Entwicklungsarbeit auf nur 3 Monate begrenzt. In diesem überschaubaren Rahmen entschieden wir uns für eine abzunehmende Dokumentation inklusive Basisdesign und die anschliessende Entwicklung «am Stück».
Ein Basisdesign besteht nur aus den Hauptelementen und wenigen Schlüsselscreens zur Abnahme und dem Aufbau eines gemeinsamen Verständnisses und wird dann während der Entwicklung für die Details dekliniert.
Abbildung 1: Der Start im Beratungstool «Harmony» ist schlicht und stört das Gespräch weder durch Animationen noch durch viel Text (bzw. Wahrnehmungsaufwand).
Im Februar 2023 war es schliesslich so weit. Das Beratungstool war nun bereit für den Praxistest.
Summativer Test
Im Gegensatz zur formativen Evaluation, die während des Entwicklungsprozesses durchgeführt wird, findet der summative Test nach Abschluss des Entwicklungszyklus statt und dient der abschliessenden Bewertung der Nutzererfahrung. Der Zweck eines summativen Tests besteht darin, festzustellen, wie gut das Produkt die festgelegten Ziele erreicht und ob es den Bedürfnissen und Erwartungen der Nutzenden entspricht. Er wird verwendet, um quantitative Daten zu sammeln und die Leistung in Bezug auf vordefinierte Erfolgskriterien zu messen. Die Ergebnisse tragen dazu bei, potenzielle Verbesserungen oder Anpassungen für zukünftige Iterationen oder Versionen zu identifizieren.
In den Gesprächstests wurde die neue Beratung (mit Tool und neuer Methodik) mit der bestehenden Beratung (ohne Tool und mit bestehender Methodik) verglichen.
Unser Experimentaldesign erlaubte dabei die Untersuchung der Servicequalität, Raumsituation (sogenannte «Tangibles») und der Arbeitsplatzsituation (Beherrschen von Tool und Prozess, Bedenken gegenüber Effizienz oder Effektivität). Zudem wurden alle Beratungsgespräche (24 klassisch und 24 mit Tool) auf Auffälligkeiten hin beobachtet. Dadurch ergab sich ein reichhaltiges Bild über die Anforderungen an die Transformation, noch vorhandenes Verbesserungspotenzial und ein glasklarer Zusammenhang der neuen Methodik mit dem Kundenerlebnis. So konnten wir eine fundierte Einschätzung über die Adoption in der Praxis geben, auf die die CSS ihre Massnahmen für Pilotierung und Einführung aufbauen konnte.
Handbuch
Das zum Schluss des Projektes verfasste Handbuch diente als Moderationsanleitung für die Beratenden. Darin wurden zudem die Verankerung in Verkaufstechniken (SPIN-Fragetechnik von Neil Rackham) aufgeführt sowie Erkenntnisse aus den Beobachtungen der Kundinnen und Kunden, die für die Beratenden nützlich sein können. Damit war das Handbuch ein wesentliches Anschlussdokument für Schulung und Change. Es richtete sich aber direkt an die Beratenden, die es als Nachschlagewerk für die Philosophie und Beispielmoderationen verwenden konnten.
Abbildung 2: Auszug aus dem Handbuch.
Ergebnisse
Das Bottom-up-Vorgehen erlaubte es uns, gemeinsam mit den Nutzenden einen Prozess zu entwickeln, der schnell und effektiv umgesetzt werden konnte. Das Vorgehen ermöglichte es, das Wissen und die Erfahrungen der Mitarbeitenden besser zu nutzen, da sie am nächsten an den Herausforderungen und Problemen sind, die im täglichen Geschäft auftreten. Dies kann zu einer höheren Motivation, Engagement und Zufriedenheit der Mitarbeitenden führen und das Vertrauen zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden fördern. Wenn Berater aktiv an der Erarbeitung des neuen Beratungsansatzes und Tools beteiligt sind, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie das neue Tool akzeptieren und in ihre Beratungspraxis integrieren werden. Die projektmitarbeitenden Berater:innen werden dabei frühzeitig an ihre Rolle als Botschafter herangeführt und können in der Organisation über die Entwicklung und Weiterentwicklung berichten. Gerade in grossen Unternehmen, die Entscheidungen oftmals über Führungsgremien treffen, bedarf ein Bottom-up-Vorgehen Offenheit und Mut. Der Erfolg spricht aber schlussendlich für sich.
Dank des summativen Vergleichstests erhielt der Change-Aufwand eine Dimension, die in der Organisation verstanden wurde und nachvollziehbar war. Unsere Empfehlungen hinsichtlich der Infrastruktur, Implementierung und Weiterführung waren für die Stakeholder transparent, in Masszahlen nachvollziehbar und verständlich. Die CSS konnte basierend auf den Erkenntnissen die Einführung durch zusätzliche Ressourcen unterstützen und das Tempo des Rollouts anpassen.
Wir wünschen den Beraterinnen und Beratern der CSS gutes Gelingen, ein bisschen Mut für den Einsatz des Tools und grossartige Gespräche mit ihren Kundinnen und Kunden. Den Kundinnen und Kunden der CSS wünschen wir, dass sie in den Gesprächen etwas mehr über sich lernen und leichter zur richtigen Lösung für ihr Bedürfnis gelangen können.
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Referenzen
Dulleck, U., & Kerschbamer, R. (2006). On doctors, mechanics, and computer specialists: The economics of credence goods. Journal of Economic literature, 44(1), 5-42.
Nussbaumer, P., Matter, I. S., & Schwabe, G. (2012). “Enforced” vs. “casual” transparency -Findings from IT-supported financial advisory encounters. ACM Transactions on Management Information Systems, 3(2).
Schmidt-Rauch, S., & Nussbaumer, P. (2011). Putting value co-creation into practice: A case for advisory support. Proceedings of the European Conference on Information Systems (ECIS) 2011.
Schmidt-Rauch, S., Schwabe, G. Designing for mobile value co-creation—the case of travel counselling. Electronic Markets 24, 5–17 (2014). https://doi.org/10.1007/s12525-013-0124-8